Wie viel Paternalismus verträgt eine liberale Gesellschaft?

Uns Grünen wird von außen gerne vorgeworfen eine Verbotspartei zu sein. Schließlich wollen wir den Konsum von klimaschädichem Fleisch einschränken, überholte Ölheizungen abschaffen und das unnötige (schnelle) Autofahren verbieten. Das Klischee der Verbotspartei klebt an uns, was wir natürlich nicht mit positiven Gedanken in Verbindung bringen. Vermutlich nutzt der politische Gegner es genau deshalb als taktisches Mittel und das, unabhängig davon, ob wir in der Kommunikation unserer Inhalte über ein Verbot sprechen oder nicht.
Wahrscheinlich sind sich die meisten Menschen über die ethischen, gesundheitlichen und ökologischen Folgen eines hohen Fleischkonsums bewusst, möchten aber nicht zu einem bestimmten Verhalten gezwungen werden und stattdessen selbst entscheiden, was auf dem Teller landet. Das ist ihr gutes Recht und niemand von uns strebt einen bevormundenden Staat an. Dennoch stellt sich die Frage, wie die Politik die Bürger*innen davon überzeugen kann, dass das Verhalten des Individuums auch Verantwortung gegenüber anderen Menschen und der Umwelt tragen sollte. Die Gretchenfrage einer modernen, demokratischen Politik lautet daher: Wie viel Paternalismus verträgt eine liberale Gesellschaft?
In ihrem Buch „Nudge: Improving Decisions About Health, Wealth and Happiness“ schlagen die beiden Autoren, Richard Thaler und Cass Sunstein, ein psychologisches Werkzeug zur Umsetzung ebensolcher Ziele vor: Das Nudging, auf Deutsch das Anstupsen. Es beschreibt eine sanfte Beeinflussung unser Wahl, sodass wir uns ohne Zwang für eine bestimmte Option entscheiden. Ein klassisches Beispiel ist die Platzierung von Obst und Gemüse auf dem gut beleuchteten Buffet einer Kantine und die Verbannung von Fast Food und Süßigkeiten in eine abgelegene Ecke. Das ungesunde Essen wird dadurch weder teurer, noch wird es verboten. Doch wer auf dem ersten Anblick einen frischen Apfel sieht, greift eher zu, als wenn dieser gleich neben einem Schokoriegel angeboten wird. Mithilfe von Nudging, das sich als liberalen Paternalismus bezeichnen lässt, wird somit das Verhalten der Menschen beeinflusst. Vor diesem Hintergrund fragt man sich, ob mündige Bürger*innen etwas derartiges brauchen und ob dieser liberale Paternalismus eine freiheitliche Alternative zur Ordungspolitik darstellt.

Vorweg sei erwähnt, dass Menschen nicht rational gestrickt sind. Die in der Wirtschaftswissenschaft gerne genutzte Annahme eines homo oeconomicus, der auf Basis berechnenden Kalküls agiert, trifft selten auf uns Menschen zu. Die Hypothese, Menschen träfen Entscheidungen in ihrem besten Interesse, ist fernab jeder menschlichen Realität. Obwohl man als Allergiker in der Heuschnupfen-Saison weniger Zucker zu sich nehmen sollte, kann dem Kauf von zwei Kugeln Stracciatellaeis beim Anblick einer Eisdiele kaum widerstanden werden. Laut dem Verhaltensforscher Daniel Kahneman lässt sich menschliches Handeln in zwei Systeme unterteilen. Zum einen gibt es laut Kahnemann schnelle, intuitive Aktionen wie den Griff zum klingelnden Handy und zum anderen langsames, kontrolliertes Agieren, das beispielsweise bei der Beantwortung einer komplexen Frage zu beobachten ist. In vielen Alltagssituation hinterfragen wir Kosten und Nutzen unseres Handelns nicht, sondern treffen Entscheidungen aus dem Bauch heraus. Die Entscheidung wird dabei jedoch durch viele Stimuli beeinflusst, beispielsweise die Art und Weise, wie die Optionen platziert sind. Wer auf Nudging setzt, gibt kein bestimmtes Verhalten vor, sondern arbeitet an Nuancen der individuellen Entscheidungsarchitektur.
Im öffentlichen Leben geht es oft um wesentlich sensiblere Themen als das Mittagessen in der Kantine. In genau jenen Bereichen, in denen Regulierung oft als notwendiges Mittel betrachtet wird, etwa im Straßenverkehr oder der Marktwirtschaft, gibt es zweifelsfrei härtere Grenzen zwischen Individualismus und Vorschriften. Heutzutage legen wir selbstverständlich den Anschnallgurt an oder warten an einer roten Ampel, denn wir sind, beziehungsweise wurden überzeugt, dass dies Voraussetzung für allgemeine Sicherheit und Effizienz ist. Ein aktuelles Beispiel, die Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen, zeigt, wie sensibel Mensch und Politik gegenüber einer Änderung des Status quo sind. Anstatt die Maßnahme ins Leben zu rufen und damit einen großen Beitrag zu Verkehrssicherheit und Umweltschutz zu leisten, werden neben deutschen Schnellstraßen abschreckende Plakate von Unfallopfern platziert, welche die Folgen von zu hoher Geschwindigkeit symbolisieren – auch eine Form von Nudging.

Über die Sinnhaftigkeit dieser alternativen Maßnahmen lässt sich endlos streiten. Bei beiden Wegen stellt sich die grundlegende Frage: Wer entscheidet; wer ist der Paternalist, der unser Handeln zu lenken versucht? Die Grundvoraussetzung in einer liberalen Demokratie sollte die Legitimation der Handelnden sein, welche im Sinne des Grundgesetzes die Wahl der regierenden Politiker*innen darstellt. Darüber hinaus ist fraglich, inwiefern ein Staat vorbildliches Handeln incentivieren oder erzwingen sollte – eine Gratwanderung zwischen Etatismus und Liberalismus. Genau diese Gratwanderung lässt sich in vielen politischen Entscheidungen von Bündnis 90/Die Grünen betrachten: Das Abwägen zwischen individueller Freiheit und kollektiver Verantwortung ist keine pauschale Entscheidung, sondern Detailarbeit. Insbesondere in den von uns Grünen fokussierten Politikfeldern der Klima- und Umweltpolitik sind angesichts der Klimakrise klare Regeln notwendig. Letztendlich sind einige wenige Restriktionen vielleicht auch besser als viele entscheidungsbeeinflussende Maßnahmen.
Im Zwischenbericht des neuen Grundsatzprogramms von Bündnis 90/Die Grünen heißt es eingangs: „Im Mittelpunkt unserer Politik steht der Mensch in seiner Würde und Freiheit“, was wahrhaftig einen Pfeiler des gesellschaftlichen Liberalismus darstellt. Nicht zuletzt sind wir durch unsere Parteigeschichte und die Rolle von Bündnis 90 als Friedens- und Freiheitsbewegung dem Liberalismus verpflichtet, jedoch nicht auf Kosten der Freiheit anderer oder unserer Umwelt. Wir Grüne stellen uns laufend die Frage, mit welcher Politik sich die Welt verbessern lässt und wie die ökologischen, sozialen und liberalen Leitplanken für eine solche Politik aussehen können. Nudging ist hierfür sicher kein Allzweckmittel, aber das sind pauschale Verbote auch nicht.
Dieser Beitrag wurde am 25. Mai 2020 auf der Website des Netzwerks Sozialliberal veröffentlicht.