2021 wird für die internationalen Beziehungen das Jahr der Impfstoff-Diplomatie. Ob sich der Multilateralismus in einer globalen Gesundheitskrise beweisen kann, hängt vor allem vom Erfolg der neu geschaffenen Organisation COVAX ab. In der Zwischenzeit werden vor allem zwei Akteure versuchen, den hohen Bedarf an Impfstoffen in Entwicklungs- und Schwellenländern abzudecken: Russland und China.
Seit dem Ausbruch der globalen SARS-CoV-2-Pandemie beschäftigt sich die medizinische Forschung weltweit mit der Entwicklung eines adäquaten Impfstoffs, um die pandemische Verbreitung zu bremsen und die damit einhergehende gesundheitliche Gefahr zu mindern. Laut dem Deutschen Zentrum für Infektionsforschung dauert die Herstellung eines wirksamen Impfstoffs gegen ein neues Virus normalerweise Jahre oder gar Jahrzehnte [1]. Im Zuge der Corona-Pandemie, welche sich beginnend im Januar 2020 über den Globus verbreitete, konnten jedoch zahlreiche Forschungsteams weltweit bereits Erfolge vermelden und erste Präparate zugelassen werden. Das renommierte Wissenschaftsjournal Science erklärte die rapide Impfstoffentwicklung gegen SARS-CoV-2 folglich zum wissenschaftlichen Durchbruch des Jahres (“breakthrough of the year”) [2].
Der erste Impfstoff, der von der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) zugelassen und in Deutschland seit wenigen Tagen verwendet wird, ist das Vakzin BNT162b2 des Mainzer Unternehmens BioNTech, welches in Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Pharmakonzern Pfizer hergestellt wird [3]. Zuvor wurde es per Notfallzulassung bereits in den USA sowie regulär unter anderem in der Schweiz und Großbritannien zugelassen [4, 5]. Doch auch andere Nationen rühmen sich mit Vakzin-Entwicklungen. Beispielsweise wurde schon im August in Russland der dort entwickelte Impfstoff Gam-COVID-Vac (“Sputnik V”) zugelassen, jedoch vor Abschluss aller Prüfungsphasen [6]. Darüber hinaus entwickeln die chinesischen Pharmaunternehmen Sinovac und Sinopharm Vakzine, welche sich in verschiedenen Entwicklungsstadien befinden. Laut Firmenmitteilung wurde der Sinopharm-Impfstoff bereits über eine Million mal verabreicht, vor allem an chinesische Militär- und Regierungsangehörige [7].
Zusammenfassend lassen sich drei globale Player in der Impfstoffherstellung beobachten: 1) Die Russische Föderation, 2) die Volksrepublik China, sowie 3) der “Westen” (USA, Großbritannien und die EU-Staaten). Auffällig sind insbesondere die politischen Töne, welche im Kontext der Zulassung und Verteilung zu vernehmen sind. Als die EMA das russische Sputnik-Vakzin nicht in Erwägung zog und dem EU-Mitgliedsstaat Ungarn nur widerwillig die Genehmigung für eine individuelle Testung erteilte, wurde dies umgehend scharf von Russland kritisiert [8]. Der Chef des Russischen Fonds für Direktinvestitionen (welcher die Sputnik-Entwicklung finanziert), Kirill Dmitriew, interpretierte das Verhalten der EU-Behörde als einen Versuch des Westens von „Problemen mit eigenen Impfstoffen, etwa ihrer unzureichenden Sicherheit“ abzulenken. Der Sprecher des Verteidigungsministeriums wurde weitaus deutlicher und sprach davon, im Detail zu wissen, “welche Mittel und Ressourcen verwendet werden, um den russischen Impfstoff in Russland und der Welt zu diskreditieren“ [9].
Diese Aussagen verdeutlichen, dass die Impfstoff-Entwicklung und die Umsetzung der Impfungen für den Kreml nicht nur von gesundheitlicher oder gar wirtschaftlicher, sondern vor allem auch von geopolitischer Relevanz sind. Beim “Rennen der Weltmächte um den Impfstoff” geht es allen globalen Playern am Ende des Tages auch um Außenwirkung und Macht [10]. Im Kontext von Soft Power (“weiche Macht”), mittels welcher politische Macht durch Anziehung statt durch Zwang oder Bezahlung erreicht wird, symbolisiert die erfolgreiche Vakzin-Entwicklung und eine Bedienung des internationalen Bedarfs vor allem die medizintechnologische Superiorität, welche in der Konsequenz zu starken Abhängigkeiten führt [11]. Jene Industrienationen, deren Pharmaunternehmen ein Oligopol in der Impfstoffentwicklung bilden, sind – zum jetzigen Zeitpunkt – die einzigen Hoffnungsträger für eine medizinische Versorgung von Schwellen- und Entwicklungsländern in Südamerika, Afrika und Teilen Asiens.

“Nein zum Impf-Nationalismus, ja zum Impf-Multilateralismus” – mit diesen Worten kommentierte Josep Borrell, der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, die erfolgreichen Testergebnisse des BioNTech-Impfstoffs Mitte November. Laut dem spanischen Top-Diplomaten sollen Impfstoffe “öffentliche Güter” sein, die für alle zugänglich und an keinen politischen Gehorsam oder Bedingungen geknüpft sind, wie es bei der “Masken-Diplomatie” Anfang des Jahres der Fall war [12]. Jene Masken-Diplomatie bezieht sich vor allem auf die Aktivitäten der Volksrepublik China, welche im Frühjahr 2020 einen Großteil des globalen Bedarfs an Schutzmasken und anderen medizinischen Materialien bediente. Nicht die EU, sondern China schickte zuerst und öffentlichkeitswirksam Hilfsgüter in besonders betroffene Gebiete, wie Norditalien. Das Politbüro konnte sich somit als großzügiger Helfer und späterer Gewinner der Corona-Krise inszenieren – die Tatsache, dass die Pandemie ihren Ursprung in der chinesischen Provinz Hubei hatte, geriet zunehmend in den Hintergrund der internationalen Wahrnehmung.
Die Volksrepublik hat ein klares Ziel: Bis zum Jahr 2049 will sie die Vereinigten Staaten als globale Supermacht überholen – 100 Jahre nach ihrer Staatsgründung. Die Impfstoff-Diplomatie ist ein wichtiger Hebel zur Erreichung weiterer Bedeutung in Entwicklungs- und Schwellenländern. Diverse Nationen, unter anderem Serbien, Brasilien und Pakistan testen die chinesischen Vakzine (laut chinesischen Staatsmedien tun sie dies auch, weil die Fallzahlen im Inland zu niedrig für dortige Testungen seien) und haben bereits Kaufvereinbarungen getroffen. Doch die Zusammenarbeit hat ihren Preis – im wahrsten Sinne des Wortes. Entgegen ursprünglicher Hoffnungen werden die Impfstoffe nicht kostenlos erhältlich sein und illiquide Staaten sind auf ein entsprechendes Finanzierungsprogramm angewiesen [13]. Die Konditionen erinnern an diverse Infrastrukturmaßnahmen Chinas im Ausland, sei es bei der Bereitstellung eines U-Bahn-Netzes in Äthiopien oder dem Bau einer Autobahnbrücke in Serbien im Zuge des Seidenstraßenprojekts.
Darüber hinaus setzt die Volksrepublik auch bei der Impfstoff-Kooperation konsequent ihre Ein-China-Politik fort. Diese bedingt, dass das Territorium der Republik China (Taiwan) Bestandteil des einen, kommunistischen Chinas ist. Jene Staaten, die sich für diplomatische Beziehungen mit Taipeh entschieden haben (eine vollwertige Partnerschaft mit beiden Seiten ist de facto nicht möglich), beispielsweise die Marshall Islands oder Palau, wurden bei einer virtuellen Besprechung des chinesischen Außenministeriums mit den pazifischen Inselstaaten zur Impfstrategie Ende November nicht berücksichtigt [14]. Den Philippinen wurde gar ein rascher Zugang zu Impfstoffen versprochen, nachdem Staatschef Duterte versprochen hatte, künftig weniger Kritik an Peking zu äußern [15]. Die zuvor beschriebenen Infrastrukturinvestitionen, welche in den vergangenen Jahren vor allem in Afrika getätigt wurden, dienen ebenfalls dazu, den Kurs der Ein-China-Politik durch ökonomischen Druck und Abhängigkeitsverhältnisse zu erzwingen und somit Taiwan kontinuierlich auf dem internationalen Parkett zu isolieren [16]. Doch solch ein Vorgehen ist nicht risikofrei und China stolpert stetig über eigene Qualitätsprobleme, seien es dysfunktionale Masken oder instabile Autobahnbrücken.
Auch mit seiner Impfstoff-Diplomatie geht China ein großes Risiko ein. Im November wurde eine klinische Sinovac-Studie in Brasilien abgebrochen, weil ein Proband plötzlich verstarb. Der konsequente Studienstopp wurde von Bolsonaro gar als “politischer Sieg” bezeichnet und bekam international viel Aufmerksamkeit [17]. Um nicht auf einzelne, bilaterale Bündnisse angewiesen zu sein, setzt auch China in Form der internationalen Impfstoff-Initiative COVAX (Covid-19 Vaccines Global Access) auf Multilateralismus – im Gegensatz zu den USA. Möglicherweise, und hierauf hofft insbesondere die EU, wird sich das mit der Inauguration Bidens ändern. Denn derzeit fehlt es der Initiative noch an Mitteln, um eine globale Verteilung sicherzustellen [18]. Dieses Vakuum werden in der Zwischenzeit vor allem China und Russland zu füllen versuchen. Die nächsten Monate werden – nicht nur angesichts der rasant steigenden Infektionszahlen – entscheidend für eine gerechte Impfstoffverteilung und gute Gesundheitsversorgung von vielen Millionen Menschen sein.

Quellen:
[1] https://www.dzif.de/de/entwicklung-von-impfstoffen
[2] https://vis.sciencemag.org/breakthrough2020/
[3] https://www.zeit.de/wissen/2020-12/ema-empfiehlt-impfstoff-einsatz-von-biontech-und-pfizer-in-der-eu
[8] https://www.reuters.com/article/us-health-coronavirus-eu-hungary-idUSKBN27Z1H4
[13] https://merics.org/de/kurzanalyse/chinas-impfstoff-diplomatie-tests-etwa-16-laendern-weltweit
[14] https://thediplomat.com/2020/12/china-continues-its-covid-19-diplomacy-in-the-pacific/
[15] https://www.tagesschau.de/ausland/china-corona-impfstoff-101.html [16]
[18] https://www.reuters.com/article/us-health-coronavirus-vaccines-covax-bid-idUSKBN27T1BT